Stadtlagerhaus Regensburg // W 2020/21

Stadtlagerhaus Regensburg

Sibel Erhan, Morgane Müller / Masterarbeit WS 2020/2021 / Prof. Andreas Emminger, Prof. Dr. Ulrike Fauerbach, Prof. Dr. Dietmar Kurapkat

 

Wir leben in einem Zeitalter der Ungewissheit: Das starke Bevölkerungswachstum, die Vereinsamung der Gesellschaft und dazu der rasant ansteigende Wohnraumbedarf sind aktueller denn je. Es erscheint daher notwendig, gemeinsame Lösungen zu finden. Ein bedeutender und vielversprechender Ansatz ist Adaptive Reuse in der Architektur. Lange Zeit war die Destruktion alter Gebäude, um Raum für neue zu schaffen, ein durchaus gängiges Unterfangen. Die Knappheit an Ressourcen, vor allem an dem benötigten Sand für die Betonmischung, aber auch der ökologische Fußabdruck von Neubauten verlangen ein Umdenken im Bauen. Nachhaltigkeit durch Neunutzung ist daher die bewusste Entscheidung, die Vergangenheit zu bewahren, während man gleichzeitig für die Zukunft plant. In diesem Sinne rücken auch immer mehr ungenutzte Industriedenkmäler in den Fokus der Öffentlichkeit. Hierbei wird eine Funktionsumwandlung durchgeführt, die teilweise bauliche Veränderungen nach sich zieht. Diese Veränderungen des Gebäudes können dem Industriebau und seiner Geschichte nur mithilfe vorangegangener bauforscherischer Untersuchungen und Dokumentation gerecht werden.

Das Stadtlagerhaus Regensburg als ein Zeuge der modernen Industriearchitektur des 20. Jahrhunderts in Bayern wurde Objekt einer analytisch bauforscherischen Studie sowie einer konversiven entwurflichen Neuplanung. Anhand von funktionalen, konstruktiven und historischen Befunden wurde eine fundierte Forschungsgrundlage für den verantwortungsvollen Umgang mit der denkmalgeschützten Bausubstanz geschaffen. So wurden Stadien des Ablaufes innerhalb des Gebäudes rekonstruiert, denkbare Bewehrungssysteme, die im Bauwerk angewendet wurden, aufgeschlüsselt, gezielt bauliche Veränderungen erörtert und schlussendlich ein Vorschlag, in Form eines architektonischen Entwurfes, zu einer Neunutzung dargelegt.

Das Ensemble, das sich in dem Bestand des Stadtlagerhauses Regensburg zeigt, zeugt von einem außergewöhnlichen architektonisch-städtebaulichen Wert. Die geschichtliche Dimension über das Ursprungsgebäude des städtischen Stadtlagerhauses des frühen 20. Jahrhunderts aus den Anfängen des Eisenbetons sowie die spätere Erweiterung unter dem NS-Regime mit einer frühen Form des Brutalismus schaffen einen irritierenden und einmaligen Widerspruch, der auf einer hohen Gestaltkomplexität beruht. Die Revitalisierung des Bauensembles wurde 2020 in Form einer Machbarkeitsstudie der Stadtwerke als Inhaber ergründet und ist damit mit einem nachdrücklichen Interesse verbunden.

Der bauforscherische Teil der Masterarbeit konnte sich im Ensemble des Lagerhauses nur auf einen bestimmten Bereich konzentrieren. Die Entscheidung fiel auf den Schüttbodenbereich des Mittelbaus und damit ältesten Bereich des Bauensembles. Die Schüttböden bieten ein Potenzial an Erkenntnissen, darüber hinaus stellte sich nach kurzer Planrecherche heraus, dass keine bzw. unvollständige Pläne dieser Böden vorhanden waren. Der anschließende Entwurf befasst sich mit dem Gesamtensemble. Bei der Untersuchung des Stadtlagerhauses wurden verschiedene Forschungsmethoden angewandt. Die grundlegende Methodik ist das detailreiche Architektenaufmaß, hierbei im Spezifischen das tachymetrisch gestützte Aufmaß. Die zur Verfügung stehende Zeit, die gewollte Zeichnungsgenauigkeit von 1 zu 100 und den repetitiven Charakter der Industriestruktur erlaubten eine multidisziplinäre Herangehensweise.

Auf der Grundlage der vorangegangenen bauhistorischen Untersuchungen wurde im Anschluss ein Entwurf im Sinne eines Projektes zum Adaptive Reuse erstellt. Dabei wird das ehemalige Konzept der trimodalen Anfahrtswege dieses Ensembles nun in einen multimodalen Nutzungsansatz überführt. Im Vordergrund des gesamten Entwurfsprozesses steht der Erhalt wichtiger historischer Elemente der Bauwerke. Die Eingriffe sollen grundsätzlich dazu dienen, die historischen Strukturen herauszuarbeiten; damit soll zugleich ein neuer Blickwinkel auf den Bestand ermöglicht werden. Anhand der ehemaligen Funktion des Gebäudes als Lagerungs- und Umschlagort wird dem Gedanken nach einem Ort der Bewahrung und Vermittlung nachgegangen – den Ort als eine Art moderne Stätte des Lernens zu sehen, der gleichzeitig als Treffpunkt von kulturellem und literarischem Leben dienen soll. Das Programm der Räume wird durch die folgenden fünf Leitpunkte „learning by EXPOSURE (Research Center), learning by EXPERIENCE (Performing Art Center), learning by OBSERVING (Visual Arts Center), learning by DOING (Research Center+Workspaces) und learning by INTERACTION (Workspaces)“, gebildet.

Die Silos sind durch die Zellen stark vertikal geprägt, dies gilt ebenfalls für den Silobereich im Mittelbau. Die Schüttböden hingegen zeugen von Horizontalität. Die Vertikalität wird durch Voids, also geschossübergreifende Leerräume, herausgearbeitet. Bei den Schüttböden hingegen wird die Horizontalität in Form von Ebenen unterstrichen. Diese Ebenen werden durch treppenförmige Galerien durch das Gebäude definiert. Diese fungieren als Verbindung zwischen den Räumen, strukturieren ihn und bilden gleichzeitig „Meeting Spaces“ bzw. „Public Realms“ aus. Durch die gänzliche Gesichtslosigkeit und die resultierende absente wahrnehmbare Fassadengliederung der äußeren Silobauten bedarf es einer einschneidenden gestalterischen Transformation. Dem Vorbild von Gordon Matta-Clark folgend werden gezielte Einschnitte in die Gebäude gesetzt, um Einblick in bisher unsichtbare Strukturen zu ermöglichen. Dieses Spiel an Einsichten und Öffnungen schafft einen einmaligen Blickwinkel und ein neuartiges Verständnis des Besuchers für die Strukturen der Silolandschaft. Es eröffnet die Auseinandersetzung mit verborgenen Strukturen und ebnet mit einem Bewusstsein für die Geschichte des Bauwerks eine neue Zukunft.

Das Stadtlagerhaus Regensburg zeigt sich als ein imposantes Bauensemble mit einer stark geschichtspolitischen Historie. Nach seinem Bau in dem experimentierfreudigen Zeitalter der Prinzregentenzeit als einmaliges städtisches Lagerhaus in Regensburg war es über die Jahre seines Bestehens vielen Rationalisierungs- und Innovationsprozessen ausgesetzt. Seit Beginn beherbergte es ein stetiges Zusammenspiel von Funktion und Konstruktion. Das Gebäude funktionierte als eine in sich
verflochtene Maschinerie, so zeigen die Ergebnisse der Ablaufrekonstruktion die Komplexität und Vielfältigkeit der Arbeitsprozeduren. Der monolithisch bewehrte Skelettbau des Regensburger Stadtlagerhauses aus den Anfängen des Siegeszugs des Eisenbetons lässt aufgrund fehlender allgemeingültiger Bestimmungen und unzähliger patentloser Verfahren lediglich die eine Eingrenzung auf abgewandelte Armierungsformen zu. Auch zeigen sich innerhalb des Gebäudes bauliche
Veränderungen als Konsequenz des technischen Fortschritts. Diese allgemeine Transformation des Gebäudes, gezeichnet von seinem Leben und seinem Schaffen, ist ein spürbarer Bestandteil der Seele des Stadtlagerhauses. Die intensive entwurfliche Auseinandersetzung mit dem Ensemble des Stadtlagerhauses ermöglichte mit Blick in die Vergangenheit und Gegenwart gleichzeitig eine Einsicht in die Zukunft.

 

Bildnachweise

(1) Historisches Foto: Abb.207: nach C. Lang, Hafen Stadtlagerhaus mit Silo (25.02.1939), Bilddokumentation 45-37a

(2) Luftaufnahme Außenansicht: nach Stefan Effenhauser, Stadtlagerhaus (21.06.2019) <https://www.iacobusplus.udc.es/iacobus2018-stadtlagerhaus-impressions/k_f472-
224020/
> (Stand: 12.01.2021)

(3) Schüttboden: nach Stefan Effenhauser, Stadtlagerhaus 4, OG (18.06.2019) <https://www.iacobusplus.udc.es/iacobus2018-stadtlagerhaus-impressions/> (Stand: 01.02.2022) 

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